Wissenswertes zum Kuscheln und Berühren

Mein Kuschler-Kollege Sebastian Drobny hat viele Fragen zum Thema Kuscheln auf wundervolle Weise und ganz in meinem Sinne beantwortet. Danke Sebastian für diese Informationen und Dein Okay, sie hier zu teilen. 

Was ist Kuscheln? 

  • Streicheln, Kraulen, Kneten, sanftes Kratzen, Kämmen, Drücken, Umarmen, Kopf ablegen, Halten, Wärme fühlen, mit dem Tastsinn spielen, fallen lassen. 

Welche Reaktionen gibt es, wenn man über das professionelle Kuscheln redet? 

  • Es wird sich darüber lustig gemacht. Zum einen ist es natürlich sehr ungewöhnlich, Kuscheln als Dienstleistung anzubieten. Das würde allerdings noch nicht genügen, um ein Lachen auszulösen, bei dem eine Abwertung mitschwingt. Woher also dieser ablehnende Impuls? An sich ist es klar, dass Berührung und Kuscheln etwas völlig Normales ist. Tatsächlich ist es aber keine Ausnahme, dass man im Alltag keinen Zugang zu absichtsloser Berührung hat. Erst recht, wenn man keinen Partner hat. Weiterhin wird im ersten Moment nicht daran gedacht, dass Kuscheln zu kurz kommt oder dass Kuscheln so wichtig ist. Ein Drittel der Deutschen wünscht sich mehr Umarmungen im Alltag. Und auch die Free Hugs Bewegung trifft einen Nerv unserer Zeit. Die fundamentale und vielfältige Wichtigkeit von Berührung ist noch nicht bekannt. 

Warum ist es mutig sich fürs Kuscheln einzusetzen? 

  • Weil viele Menschen Kuscheln als unwichtig erachten und den Einsatz dafür als lächerlich empfinden. 
  • Es gibt starke Konventionen, deren Änderung zäh und schwer ist: z.B. „Kuscheln ist auf den intimen Partner beschränkt“ oder „Kuscheln ist in einer sexuellen Funktion zu verstehen“ 
  • Kuscheln ist grundlegend wichtig für eine gesunde Entwicklung, ein gesundes physisches und psychisches Leben und zwischenmenschliches Miteinander. Ohne Berührung gäbe es keine funktionierende Gesellschaft!! 

Kuscheln ist unterschätzt 

  • Kuscheln hat es verdient, wieder zum Zweck an sich zu werden: „Kuscheln um des Kuschelns Willen“. Kuscheln hat fundamentale Auswirkungen auf uns und unsere soziale Umwelt. Es spielt eine entscheidende Rolle bei Selbstzufriedenheit, einer Stärkung des Immunsystem, unserer Identität, einer gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung, und um Emotionen und Gesten von Anderen wahrnehmen und interpretieren zu können. 
  • Mit ausreichend Berührung fühlt man sich glücklicher, zufriedener, selbstsicherer, alles macht Sinn, man fühlt ein Vertrauen in sich und in die Anderen. 
  • Die Idee des professionellen Kuschelns entstand in San Fransisco mit der Erkenntnis, dass Kuscheln heilsam ist. 
  • Der Tastsinn ist nicht ohne Grund der Sinn, für den die meiste Gehirnaktivität zur Verfügung steht. So Martin Grunwald, Pionier der Haptik Forschung: „Vor dem Hintergrund der übergroßen Anzahl tastsinnesspezifischer Rezeptoren und der Erkenntnis, dass die Impulse dieses Rezeptornetzes auch unter Ruhebedingungen ständig neuronal verwaltet und strukturiert werden, ist verständlich, warum die Verarbeitung von Tastsinnesreizen eine der zentralen Leistungen unserer Hirnaktivität darstellen muss. Es mag wohl möglich sein, dass einige Menschen für die kurzen Momente aktiver Denkleitungen nur zehn Prozent ihrer Hirnaktivität aktivieren, doch für die Prozesse des Tastsinnessystems reserviert die Natur vorsorglich 100 Prozent. Immer. Und selbst geringe Störungen dieses Systems gefährden den Lebensvollzug eines Menschen.“ Leider ist der Tastsinn der Sinn, der bisher natur- und geisteswissenschaftlich sträflich völlig vernachlässigt wurde. 

Quelle: „Homo Hapticus -Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“, Dr. Martin Grunwald, 2017; Droemer-Verlag, ISBN 987-3-426-27706-5

Warum ist Kuscheln gesellschaftlich tabuisiert? Wie kam es dazu? 

  • Die Berührungshäufigkeit schwankt zwar in unterschiedlichen Kulturen, jedoch leiden Menschen in der westlichen Welt durchweg immer mehr unter Berührungshunger. 
  • Ein Grund dafür liegt sicherlich in der Technisierung und vor allem Digitalisierung unseres Zeitalters: die Menschen sind online vernetzter denn je und offline einsamer und isolierter denn je. Das ist keine überraschende Neuigkeit mehr. 
  • In der Moderne greift außerdem die Angst vor sexuellen Übergriffen um sich. Berührung wird immer mit einem sexuellen Kontext aufgefasst. Um seine Kinder davor zu schützen, herrscht auch in der Erziehung eine berührungsfeindliche Haltung (gegenüber Berührung des Kindes von Fremden, Kindergärtner, Lehrer usw.). Schlagzeilen in denen missbrauchende Berührung von Erziehungsverantwortlichen stattfand, brennen sich in die Köpfe und versteinern die fatale Devise: „Lieber gar keine Berührung, als die Gefahr von falscher Berührung.“ 
  • Die Bedeutung von Berührung als sexueller Annährung ist allgemeingültig geworden, sodass sie oft nur noch für diesen Zweck benützt wird. Es gibt kaum noch Kuscheln um des Kuschelns willen. In Beziehungen ist es oft üblich, dass Kuscheln nur das Vorspiel zu Sex ist. Das empfangende Gegenüber weiß um diese Bedeutung und geht daher in Abwehrhaltung: Die erste zugelassene Berührung ist schon ein erster Schritt zum Endziel der Verkettung von unausweichlichen Folgen: Sex. Meistens ist die Stimmung dazu jedoch nicht vorhanden. 

Wo suchen wir nach Berührung im Alltag? 

  • Der Health-Care und Beauty Bereich boomt nicht zuletzt auch daher, weil absichtslose Berührungen erfahren werden können: etwa beim Kopfwaschen beim Friseur oder beim Masseur oder Sportarten und Entspannungskursen mit Körperkontakt. 
  • Auch Haustiere sind ein beliebtes Medium, um Kuscheln und Spielen zu erfahren. Man braucht sich hier nur die Statistiken zum Besitz von Haustieren in Deutschland anzuschauen und zu staunen. 

Wenn man zuhause kaum Berührung hat, wo lernen wir das Kuscheln? 

  • Man muss es neu lernen – Berührung nach langem Berührungshunger ist ein Aha-Effekt. Vergleichbar mit einer neuen Brille nach einer schleichenden Erblindung. Oder einem plötzlichen Gefühl von Leichtigkeit und Sinnerfülltheit nach einer langen depressiven Phase, die man schon als „Normalzustand“ akzeptiert hat. Es braucht die Initialzündung – auch durch professionelle Kuschel-Sessions und Kuschelabende 
  • Wir brauchen Aufmerksamkeit der Institutionen. Es muss an den Bildungseinrichtungen Aufklärung über Berührung geben. Auch über Ablehnung und Zustimmung (Konsens) von Berührung. 
  • An Institutionen müssen mehr geschützte Räume geschaffen werden, um neue Berührungszugänge zu ermöglichen und um Berührung wieder zu lernen: Kindergarten, Schule, Psychiatrie, Altenheim, Krankenhaus, Gefängnis, Arbeitsplatz… 

Angst vor Berührung – neues Erlernen? 

  • Durch Herantasten an bewusste Körperwahrnehmung 
  • Schritte zu einem gesunden Verhältnis zu Berührung können sein: Vom Kopfmenschen zum Körpermenschen werden – nicht nur einen Körper haben, sondern Körper sein. Dazu kann man Körperreisemeditationen machen, wobei man einzelnen Körperbereiche im Inneren und Äußeren bewusst spürt. Auch mehr Selbstberührung im Alltag ist ein möglicher Schritt. 
  • Auf Kuschelabenden/ Partys kann in einem sicheren Rahmen der Tastsinn erforscht werden und auch wieder trainiert werden. Feedback geben: Wie fühle ich mich, wie fühlt sich die Berührung an? Und wie drücke ich meine Emotion in Sprache oder Laute oder lautlose Kommunikation aus? 
  • An dieser Stelle fühlen wir uns als professionelle Kuschler verpflichtet, auch Möglichkeiten anzubieten, Berührung wieder zuzulassen – in einem sicheren Rahmen. In einer privaten 1:1 Kuschelsession kann individuell abgestimmt werden, welche Berührungen passieren können und welche nicht; auch wieviel Zeit für die Annährung an Berührung genommen werden möchte. 

Warum muss Nein-Sagen (zu einer Berührung zu einem anderen Menschen) bei Kuschelpartys gelernt werden? Warum fällt das vielen schwer? 

  • Die Angst vor Zurückweisung hemmt sehr stark, seinen intuitiven Gefühlen Ausdruck zu verleihen: Man kommt in eine Berührung, die man nicht sehr angenehm findet und verpasst den Anfangsmoment sie abzulehnen. Man fühlt sich verpflichtet, die Situation so hinzunehmen, auch wenn es nicht perfekt ist. 
  • Das wollen wir aktiv auf Kuschelpartys ändern: Es ist jederzeit in Ordnung, nein zu sagen, oder sich selbst ganz aus einer Übung herauszunehmen oder sich beim freien Kuscheln allein an den Rand zu begeben. Das Gegenüber kann in diesem Raum leicht lernen, ein Nein zu akzeptieren. Denn ein Nein geschenkt zu bekommen, ist etwas Großartiges. Der andere beweist großes Vertrauen, dass ich nicht verletzt bin, wenn ich ein Nein erhalte. Ein Nein ist ein „Jetzt gerade nicht“. Aber keine Abwertung der ganzen Person. Die gegenseitige Anerkennung geht nicht verloren. 

Emotionen beim Kuscheln 

  • Das Kuscheln befreit das innere Selbst. Angestautes kann in der völligen Entspannung endlich seinen Weg finden: positive und negative Emotionen – in jedem Fall wird der Kuschelpartner aufgefangen und findet eine sichere Landung für seine Gefühle. 
  • Emotionen sind erwünscht, sie können frei herausgelassen werden 

Erregung beim Kuscheln? Kommt sie vor? Wie geht ihr damit als professionelle Kuschler um? 

  • Es gibt mindestens zwei Ebenen beim Kuscheln: Die eine ist geprägt von Entspannung und Ruhe, die andere von Erregung und Spannung und vermutlich Zwischenstufen wie etwa verspielte Spannung, die noch nicht mit Erregung verbunden ist. 
  • Erregung beim Kunden: Ist natürlich, kommt vor und ist nicht verboten bei Kuschelsessions. Es ist nichts, was peinlich sein sollte. Allerdings halten wir dazu an, wieder von dem Erregungsplateau herabzusteigen in eine Ebene, die von Ruhe und Entspannung geprägt ist. Das kann mit einer bewusst ruhigen Atmung oder Kuschelpositionswechsel wirksam erzielt werden. 
  • Erregung bei der professionellen Kuschlern: Ist ebenfalls natürlich und das Auftreten davon kann nicht geleugnet werden. Als professionelle/r Kuschler/in, weiß man allerdings damit umzugehen: Man kennt sehr genau die persönlichen Berührungsweisen, die zu Erregung hinführen, sodass diese idealerweise erst gar auftritt 
  • Der professionelle Kuschler (wie jeder Mensch?) ist auch dazu fähig sich wieder zu einem entspannten Zustand zu führen. 
  • Initime Berührungen und erotische Handlungen sind in den Kuschelsessions und den Kuschelabenden absolutes Tabu. 
  • Kuscheln ist nicht nur fundamental wichtig für die physische und psychische Gesundheit der Menschen, sondern auch für ein gesundes soziales Miteinander. Ohne Berührung gäbe es keine funktionierende Gesellschaft! 
  • Dr. Martin Grunwald – ein Pionier der Berührungsforschung – hebt die soziale Rolle von Berührung in seinem Buch „Homo Hapticus“ hervor. Kein anderer Sinneskanal und auch Worte seien nicht dazu fähig so schnell und unmissverständlich emotionale Botschaften zu vermitteln. Über Berührung kommunizieren wir Zuneigung, Verzeihen, Freude Anerkennung, Lob, Wertschätzung, Furcht, Ablehnung. Das Tatsinnessystem ist enorm komplex und hochsensibel. Evolutionär macht das Sinn, da der Mensch auf Gemeinschaft angewiesen ist. Daher belohnt der Körper uns für sozial „richtige“ Berührungen mit einem Botenstoffcocktail, der in einen zufriedenen und entspannten Zustand führt. „In unserer Individualentwicklung haben Körperberührungen durch andere Menschen einen herausragenden und überlebenswichtigen Stellenwert. Dass unser Organismus auf situationsadäquate Berührungsreize deshalb in der Regel mit positiven Emotionen und reduzierter Stressbiologie reagiert, folgt somit auch einem langen individuellen Lernprozess. Während dieses Prozesses haben wir nicht nur eine sozial angemessene Körperinterkation mit fremden Menschen erlernt, sondern hat unser Körper auch entsprechende biologische und psychische Reaktionsmuster entwickelt. Wahrscheinlich sind diese Reaktionsmuster die Grundbausteine unseres Verhaltens bei zwischenmenschlichen und alltäglichen Körperinteraktionen.“ 
  • Kory Floyd, Professor der Universität Arizona hat eine Studie mit 509 Erwachsenen zum Thema Berührungsmangel und deren Auswirkungen ausgewertet. Er nennt den Mangel an Berührung „Berührungshunger“. Er stellt fest, dass Berührung genauso wichtig wie Essen, Wasser oder Ruhe ist. Die Menschen mit einem starken Berührungshunger litten, waren weniger zufrieden, einsamer, neigten zu Depression und gaben an, mehr Stress zu erfahren. Außerdem waren sie in schlechterer gesundheitlicher Verfassung. Sie fühlten weniger soziale Unterstützung und waren in sozialen Beziehungen weniger zufrieden. Außerdem hatten sie mehr Immunsystemdefekte. Interessanterweise trat auch häufiger Alexithymia auf, ein körperlicher Zustand, in dem die Fähigkeit reduziert ist, Emotionen selbst auszudrücken und bei anderen zu interpretieren. 
  • Die sozialen Auswirkungen bestätigt auch Uta Streit, eine Psychotherapeutin aus München. Sie hat sich viel mit Patienten beschäftigt, die Körperkontakt-Störungen haben. Ihrer Meinung nach ist das Kuschelhormon Oxytocin für eine funktionierende Kommunikation wichtig. Für soziales Sehen und soziales Hören. Für die Fähigkeit Mimik und Stimmlagen bei anderen Menschen zu erkennen und zu interpretieren. Oxytocin ist essentiell für ein gesundes Innenleben und Sozialleben. Es sichert die Fähigkeit, Vertrauen zu können, neugierig zu sein und zu entspannen. Gesellschaft ohne Oxytocin, ohne Kuscheln, würde nicht funktionieren. 
  • Auch Panjan Patel, eine Psychotherapeutin aus Amerika, nennt weitreichende soziale Auswirkungen von Berührung. Soziologische Studien hätten vielfältige positive Auswirkungen gezeigt: Darunter Steigerung der Eigenmotivation und Teammoral, besseres Image und Linderung von Depression. Wenn Lehrer in einer aufmunternden Geste ihre Hand auf den Schultern von Studenten vorab berührten, waren sie gewillter, am Unterricht teilzunehmen. Kellner/innen bekamen mehr Trinkgeld, wenn sie die Gäste kurz berührten. Als Ärzte ihre Patienten während einer Routineuntersuchung berührten, wurden sie besser bewertet. Die Teammoral von Sportlern konnte durch Berührung (high fives, Umarmumgen, Klapse) gesteigert werden und sie gewannen häufiger. Eine tägliche 15-minütige Massage von ihrem Partner zeigte sich als wirkungsvolles Antidepressivum bei Müttern, die unter einer Nachgeburts-Depression litten. 

Quellen: 

„Die unterkuschelte Gesellschaft“ von Margarete Moulin; taz Online-Artikel, http://www.taz.de/!5296607/; aufgerufen am 23.09.2017 

“The Life of the Skin-Hungry: Can You Go Crazy from a Lack Of Touch?” von Sirin Kale; Vice Online-Artikel, https://broadly.vice.com/en_us/article/d3gzba/the-life-of-the-skin-hungry-can-you-go-crazy-from-a-lack-of-touch; aufgerufen am 23.09.2017 

“What lack of affection can do to you” von Kory Floyd, PHD; Online-Artikel von Psychology Today, https://www.psychologytoday.com/blog/affectionado/201308/what-lack-affection-can-do-you; aufgerufen am 23.09.2017 

“Are we touching enough” von Ranjan Patel (PsyD, MFT); Online-Artikel von PsychCentral, https://psychcentral.com/lib/are-we-touching-each-other-enough/, aufgerufen am 23.09.2017 

 „Homo Hapticus -Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“, Dr. Martin Grunwald, 2017; Droemer-Verlag, ISBN 987-3-426-27706-5