ADHS – Mode-Diagnose oder komplexes Phänomen?

„Etwa 80 Prozent der Erwachsenen mit ADHS wissen nicht, dass sie diese Störung haben. Nicht zu wissen, dass man ADHS hat, ist ungefähr so, als würden Sie unscharf sehen, ohne zu wissen, dass es einen Zustand namens Kurzsichtigkeit gibt. Sobald Sie jedoch herausgefunden haben, dass dieser Zustand existiert, können Sie in ein Optikergeschäft gehen, einen Sehtest machen und sich eine Brille besorgen. Diese Brille wird Ihr Leben auf eine Weise verändern, die Sie sich vorher nicht hätten vorstellen können, weil Sie nicht wussten, was nicht stimmte oder was möglich war.“ (Hallowell 2024, S. 9)

Ein Freund war zum ersten Mal bei mir zu Besuch. Nachdem wir uns länger unterhalten und er mich ein paar Stunden erlebt hatte, fragte er vorsichtig: „Du hast doch auch eine ADHS-Diagnose, oder?“ Ich guckte ihn erstaunt an. Ich? Nein, ich bin weder hyperaktiv noch habe ich eine Aufmerksamkeitsstörung.

Seitdem ist viel Gutes passiert in meinem Leben.

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung… Ich habe verstanden, dass diese beiden Begriffe in der sperrigen Bezeichnung das Phänomen ADHS längst nicht ausreichend und zum Teil sogar falsch beschreiben – und, dass ich tatsächlich mit diesem besonderen Gehirn ausgestattet bin. Ich einen Online-Test gemacht, den ich als ersten Schritt sehr empfehlen kann:

https://www.adxs.org/de/test/symptom-v5

Die Seite adxs.org wird von Betroffenen, d.h. ohne kommerzielles Interesse gepflegt, ständig erweitert und aktualisiert. Sie enthält unfassbar viele hilfreiche und fundiert recherchierte Informationen zum Thema.

So, zurück zu meiner Geschichte (sich zu verzetteln und den roten Faden zu verlieren ist übrigens eines von sehr vielen ADHS-Merkmalen 😉). Der Test fiel sehr deutlich aus und ich begann, das Internet nach Informationen über AHDS zu durchsuchen und Youtube leerzugucken. Und ich war erstaunt bis schockiert: Die Leute beschrieben da genau mich! Mein Wesen, meine Art, zu funktionieren, was mich begeistert und was mich nervt. Bin ich eigentlich noch was anderes außer diesem ADHS? Habe ich auch noch eine eigene Persönlichkeit?

Ja, habe ich. Und gleichzeitig bringt dieses Syndrom so vieles mit, was mich ausmacht oder über die Jahrzehnte meines Lebens geprägt hat. Es begann die schwierige Suche nach einer Möglichkeit, ADHS diagnostizieren zu lassen. Die Ärzt*innen, die sich damit auskennen sind rar und so überlaufen, dass man zum Teil nicht mal mehr auf eine Warteliste kommt. Zudem wurde ich von meiner Hausärztin belächelt. Sie meinte, dass das ja gerade alle zu haben meinen und dass ich mal besser nach einer Traumatherapie gucken soll. Das war bitter und leider nicht meine letzte Erfahrung mit medizinischen oder psychologischen Fachkräften.

Je mehr ich mich mit dem Thema befasste und mit anderen Betroffenen sprach, desto klarer wurde, dass ADHS bei mir sehr wahrscheinlich ist. Mittlerweile habe ich, ebenso wie mein Freund damals, einen guten ADHS-Radar, der sehr schnell und recht zuverlässig ausschlägt, wenn ich Menschen mit ADHS erlebe.

Mit der Diagnose bekam ich dann auch Medikamente, was mindblowing war. Die Anzahl meiner Gedanken reduzierte sich von 50 auf 5 und dann war auf einmal Ruhe in meinem Kopf. Ruhe. Also da war nichts außer Frieden. Ich war glücklich und habe erstmal geweint. Das kannte ich so nicht. Mir fiel es leichter, mich zu entscheiden, ich war weniger kritisch mit mir und Depressionen waren auf einmal kein Thema mehr. Außerdem nahmen meine Essattacken ab.

Ja, das Leben hat immer noch Herausforderungen und nein, ein Medikament löst nicht alle Probleme. Aber ich habe das Gefühl, ich habe jetzt überhaupt erst eine Chance, sie anzugehen. Ich fahre nicht mehr mit Vollgas im ersten Gang. Das war früher immer mein Bild, weil ich alles und noch mehr gab und doch kaum voran kam.

Die Reise geht weiter. Es muss über Monate die richtige Dosis, des letztendlich richtigen Medikaments gefunden werden und alte Gewohnheiten und Überzeugungen wollen reflektiert und an die neuen Möglichkeiten angepasst werden. Dabei ist der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich und auch professionelle Unterstützung von Menschen, die sich mit ADHS auskennen. Jeder Mensch, jede Biografie und auch jede ADHS ist anders. Es ist eine von verschiedenen Faktoren beeinflusste neuronale Besonderheit, die sich auf einem Spektrum bewegt. Vielfach betrachten auch Wissenschaftler*innen sie eher als Normvariante denn als Störung. So, wie wir nicht alle gleich groß sind oder gleich talentiert auf allen Gebieten, haben wir auch unterschiedlich funktionierende Gehirne geerbt, die mehr oder weniger ADHS-Merkmale hervorbringen. So, wie es unproblematisch ist, 10cm größer oder kleiner als der Durchschnitt zu sein, und damit als „normal“ zu gelten, werden die Probleme größer, je mehr man von diesem Durchschnitt nach oben oder unten abweicht. Die Welt ist für die Normalos, die Masse gemacht und die kleinere Anzahl Menschen an den Enden eines Spektrums werden als „anders“ oder „krank“ definiert. Wo genau diese Linie gezogen wird, ist die Frage und verändert sich auch immer wieder. Es gibt die Ansicht, dass so ein ADHS-Hirn evolutionär sehr hilfreich war, in unserer heutigen Lebensweise aber zu vielen Problemen führt. Deshalb bin ich dankbar für die Diagnose und den damit verbundenen Zugriff auf medikamentöse Unterstützung, denn ich lebe nun mal in dieser Zeit und Gesellschaft. Gleichzeitig erforsche ich immer weiter die besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten, die dieses special brain mit sich bringt und versuche sie, für mich zu nutzen.

Bei dieser Reise unterstütze ich mit Freude auch andere Menschen, die selbst oder deren Angehörige von ADHS betroffen sind oder die noch nach den Ursachen für ihre Schwierigkeiten forschen.

Der Vergleich von Hallowell im Zitat ganz oben macht es deutlich: Wenn alle meinen, ich könnte ebenso scharf sehen wie sie und ich das selbst auch so denke, weil ich ja noch nie anders gesehen habe, ist es kein Wunder, dass sie meinen, ich wäre dumm, faul oder ignorant wenn ich Sachen nicht wahrnehme, ewig brauche, bis ich etwas entziffert habe und dann völlig erschöpft bin, wenn ich einen kurzen Text gelesen habe. Irgendwann glaube ich das selbst, strenge mich entweder noch mehr an und versuche zu verstecken, welche Mühe mich das kostet oder ich resigniere und bestätige, dass ich halt dumm oder faul bin und traue mir selbst nichts mehr zu.

Eine Brille zu bekommen und zu verstehen, warum die Dinge für mich so anders sind als für andere verändert so viel. Mich nicht mehr nur anders, sondern vor allem gut und richtig zu fühlen ist großartig. Und die Beziehung zu Anderen verändert sich auch, wenn ich erklören kann, warum mich manche Dinge mehr belasten als sie, mir auf der anderen Seite aber manches leichter fällt als den meisten. Das Medikament ist kein Zauberstab. Ich muss immernoch selbst Texte lesen und für Prüfungen lernen. Aber, um im Bild zu bleiben, ich kann die Schrift wenigstens klar sehen und muss mich nicht über die Maßen quälen, um den Inhalt zu erfassen. Das macht einen riesigen Unterschied!

Und um nicht missverstanden zu werden: Nicht alles ist ADHS. Es gibt Depressionen, Borderline, Abhängigkeitserkrankungen und viele weitere Erkrankungen und Alltagsschwierigkeiten auch ohne ADHS. Da viele Ärzt*innen und Psycholog*innen diese Themen aber sehr präsent haben und in diese Richtung behandeln, ADHS aber sehr unterdiagnostiziert ist und bei vielen Professionellen noch immer das Wissen dazu fehlt, ist es immer sinnvoll, auf ADHS zu testen. Danach kann dann dann auch das therapiert werden, was die Probleme verursacht.

Wenn Du unklar bist, ob ADHS für Dich oder jemanden in Deinem Umfeld ein Thema sein könnte oder wenn Du Dir schon sicher bist aber Unterstützung bei der Bewältigung verschiedener Herausforderungen brauchst, melde Dich gern.

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    Sehnsucht trifft Angst – Kuscheln trotz Missbrauchserfahrung (oder gerade dann)

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    Und gleichzeitig ist da eine schier übermächtige Angst vor zu viel Nähe, davor, einem anderen Menschen so nah zu kommen, dass sich die Körper berühren.

    Das gibt es gar nicht so selten. Meist, wenn die Seele die Erfahrung von ungewollter Berührung gemacht hat, der sie hilflos ausgeliefert war. Ob es eine Vergewaltigung war, ein sonstiger Missbrauch, oder etwas, das man gar nicht erinnert. Da ist diese Angst, wenn andere Menschen auf einen zukommen, einen umarmen wollen, das Herz pocht, manchmal macht sich Ekel breit, oder man zieht sich ganz in sich zurück und lässt die Umarmung im Außen über sich ergehen, weil es ja üblich ist, und man sich mit dieser Angst nicht jedem offenbaren will.

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